Text: Sonne und Mond

Kurzgeschichte:

Sonne und Mond



Das Mädchen ging mit leisen Schritten in den tiefen, dunklen Wald hinein, ohne jegliche Furcht. Sie selbst war ein Teil des Waldes, ob es vom Aussehen oder ihre Seele veranschaulicht wurde. Ihre braunen Locken, die im Dunkeln manchmal fast silber-gräulich leuchteten, wehten verspielt im Wind und wollten sich um die ebenso braun-grauen und knorrigen Äste der Bäume winden. Als würden sich Wurzeln zweier Bäume anziehen und zusammenwachsen wollen. Gleiches zu Gleichem. Doch das Mädchen ging unbeirrt weiter, immer tiefer in das dunkle Grün des Waldes, das ihren Augen so glich. Grün, dunkel und geheimnisvoll. Es verlor sich immer mehr in der Tiefe der Lichtung, genau wie der Wolf, der sich in der Tiefe ihrer Augen verlor. Der graue, tödliche Wolf, der sie verfolgte wie ein Schatten, verlor sein ganzes Selbst in ihren tiefen, grünen Augen. Flüchtig, still, schlummernd, wie ein Gedanke. Vielleicht war es sogar nur ein Gedanke, ein Gedanke, der das Mädchen in dem Glauben ließ, ein Wolf verfolgte sie. Zwei Seiten, derselben Münze. Beide Seiten so verschieden, dennoch mit gewissen Ähnlichkeiten. Zwei Seiten, die eine konnte nicht ohne den anderen.
Das Mädchen ließ sich weiter in den Bann des Waldes ziehen. Immer tiefer und tiefer. Der Vollmond stand schon hocherhobenen Hauptes am Himmel und leuchtete geheimnisvoll in den Wald. Die Bäume erhoben sich wie dunkle Riesen über dem Mädchen, die Blätter raschelten ungeduldig im Wind. Andere hätten das Knarren und die Größe der Bäume bedrohlich gefunden, doch das Mädchen empfand es als tröstlich. Es lief immer nur weiter, dicht gefolgt von dem grauen Wolf, der dem Mond glich wie ein zu fleischgewordener Zwilling, dem Nachts das Licht an jeden Ort verfolgte und ihn in glänzendem Silber erstrahlen lässt.
Als der Morgen langsam anbrach und den Mond verjagte, blitzten erste Sonnenstrahlen durch die dichten Blätter der Bäume. Doch das Mädchen war schon lange nicht mehr im Wald. Sie war genau wie die Blätter im Herbst, erst wurden sie vom Wind durch das Tal des Waldes getragen und dann hinauf auf die Spitze des Berges. Sie hatte ihre Prüfung geschafft und nun ließen die Sonnenstrahlen ihre helle Haut wie glitzernde Kristalle funkeln. Ihre Haut, so strahlend hell wie die Sonne, dass es wie in den Tagen zuvor alle Waldbewohner anlockte. Das genaue Gegenteil war nun der Wolf. Er hatte aufgehört zu leuchten, er war unscheinbar. Sein Blick war weiterhin auf das Mädchen gerichtet. Doch das Mädchen stand nur da und starrte in den Himmel, darauf wartend, halb hoffend, halb fürchtend, dass der Mond wieder zu herrschen begann und sie wieder am lehrreichen Anfang stand. Ohne zu ahnen, dass der Mond nie weit entfernt war.
Als die letzten Sonnenstrahlen erloschen, genau wie die Kristalle ihrer Haut, verschwanden alle Waldbewohner wieder und ließen den Tag hinter sich, so, als wäre er nie dagewesen und nur ein weiteres Kettenglied der Reihe. Das Spektakel war zu Ende. Das Mädchen war wieder im unscheinbaren, dunklen Wald. Sie drehte sich um und kehrte dem Berg den Rücken zu. Sie wanderte zurück in das tiefe, dunkle und verdorrte Tal. Der Wolf folgte ihr, still, ohne sie aus den Augen zu lassen und prächtig leuchtend. Das Mädchen war alt und ihrer Tätigkeiten und Hoffnungen müde. Ihr sonst vor Jugend leuchtendes Gesicht zierte nun wieder eine tiefe und alte Traurigkeit. Sie lief nur still vor sich hin, da sie dieses Tags wieder keinen Erfolg gehabt hatte.

Mitten im Tal drehte sie sich noch einmal um, sie wollte noch einen letzten Blick auf ihren Weg, den sie heute wieder zurückgelegt hat, erhaschen. Und erblickte zum ersten Mal den grauen Wolf, der, der ihr immer unbemerkt gefolgt war. Auch, als die Sonne und ihre Haut aufgehört hatten zu strahlen, auch dann, war der Wolf immer bei ihr gewesen. Und dann lächelte das Mädchen, denn ihr war nie klar gewesen, dass sich ihre Hoffnung und ihre Aufgabe doch schon längst erfüllt hatten, sie hatte es nur nie bemerkt.

Ihr Herz entflammte und brachte Sonne und Mond, dieses Mal sogar im tiefen, dunklen Tal des Waldes, wieder in Einklang. Und so existierte die Sonne nicht ohne den Schatten des Mondes, genauso wenig wie der Mond ohne die Strahlen der Sonne existieren konnte.

Ich bin gespannt, wie euch mein Text gefällt,
Eure Waters_of_Books

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